
Wie Coaching den Fachärztemangel an medizinischen Abteilungen angehen kann
Unser Gesprächspartner:
Priv.-Doz. DDr. Georg Haymerle
HNO-Facharzt und Gründer von The Nature Conversations GmbH
Küssnacht am Rigi, Schweiz
www.thenatureconversations.com
Mail:
georg.haymerle@thenatureconversations.com
Das Interview führte
Dr. Katrin Spiesberger
Hohe Arbeitsbelastung, Stress, schlechte Stimmung: An vielen Spitalskliniken ist das die tägliche Realität. Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Fachärzt:innen den Weg in die Niederlassung wählen. Wie man diesem Trend entgegenwirken kann, berichtet uns Priv.-Doz. DDr. Georg Haymerle, Facharzt, ehemaliger Klinikmitarbeiter und jetzt Coach für chirurgische Teams.
In vielen Abteilungen von Spitälern, vor allem in der Chirurgie und Orthopädie, wird der Alltag von Ärzt:innen oft von Stress, hoher Arbeitsbelastung und der ständigen Verantwortung geprägt. Es ist keine Seltenheit, dass die Stimmung in diesen Teams durch Überforderung und Unzufriedenheit getrübt wird. Dies führt dazu, dass oft hochqualifizierte Mitarbeiter:innen die Klinik verlassen und sich in den niedergelassenen Bereich begeben. Einer, dem dieses Thema besonders am Herzen liegt, ist Priv.-Doz. DDr. Georg Haymerle, HNO-Facharzt und ehemaliger HNO-Chirurg am AKH Wien. Er hat die Klinik verlassen und mit der Gründung von „The Nature Communications“ einen neuen Weg eingeschlagen. Als Coach für chirurgische Teams hat er es sich zum Ziel gesetzt, die Arbeitskultur im Spitalsbereich zu ändern und die Teamarbeit langfristig zu verbessern.
Doz. Haymerle, der Fachärztemangel ist ein großes Thema an vielen medizinischen Abteilungen. Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptursachen für diese Entwicklung?
G. Haymerle: Das Thema ist vielschichtig. Nach meiner Erfahrung und den Gesprächen mit Ärzt:innen zeigt sich, dass es nicht nur um die Arbeitszeiten oder das Gehalt geht. Vielmehr spielen fehlerhafte Teamstrukturen, mangelnde Kommunikation und fehlende Wertschätzung eine enorme Rolle. Ärzt:innen in den Abteilungen fühlen sich oft nicht gehört, was zu Frustration führt. Es fehlt an einer klaren gemeinsamen Vision und einem echten Teamgeist. Das führt dazu, dass viele von ihnen überlegen, das Krankenhaus zu verlassen, um eine Niederlassung oder eine Position in einer weniger belasteten Umgebung zu finden.
Wie können Ihrer Meinung nach Kliniken diesem Trend entgegenwirken?
G. Haymerle: Der Schlüssel liegt meiner Meinung nach in einer stärkeren Teamarbeit und einer positiven Arbeitskultur. Es reicht nicht aus, den Ärzt:innen mehr Gehalt oder bessere Arbeitszeiten anzubieten. Vielmehr müssen Vertrauen und gute Kommunikation die Grundlage der Zusammenarbeit bilden. Ich arbeite mit Abteilungen daran, diese Grundlagen zu schaffen und die Teamdynamik zu verbessern. Das Ziel ist, eine Umgebung zu schaffen, in der sich alle verstanden und unterstützt fühlen.
Wie sieht Ihr Ansatz aus, um diese Veränderung in den klinischen Alltag zu integrieren?
G. Haymerle: Ich nutze einen systemischen Coaching-Ansatz, um nachhaltig Veränderungen zu erreichen. Wir arbeiten mit bewährten Methoden aus der Teamentwicklung, wie der Pyramide aus „The Five Dysfunctions of a Team“, die den Aufbau von Vertrauen als Grundlage für eine funktionierende Teamarbeit betont (Abb. 1). Danach entwickeln wir eine gemeinsame Mission und Werte für das Team, die allen Orientierung geben und sicherstellen, dass alle an einem Strang ziehen.
Die Veränderung passiert aber nicht nur in Workshops – das Coaching wird direkt in den klinischen Alltag integriert. Das bedeutet, dass wir die Methoden live in der Ambulanz, auf der Station oder sogar im OP anwenden. So sparen wir Zeit und bieten den Ärzt:innen sofort umsetzbare Tools, die sie direkt im Umgang mit Patient:innen und im Team einsetzen können.
Was bedeutet das konkret für die Ärzt:innen, die an Ihrem Coaching teilnehmen?
G. Haymerle: In meiner Arbeit geht es darum, dass Ärzt:innen selbstbestimmt und mit mehr Freude in ihrem Job agieren können. Sie lernen, mit Stress und Druck besser umzugehen, ihre individuellen Stärken zu erkennen und im Team effizienter zusammenzuarbeiten. Das Coaching bietet nicht nur Werkzeug zur Stressbewältigung, sondern auch konkrete Techniken zur Kommunikation und Konfliktlösung, die im Klinikalltag sofort anwendbar sind.
Abb. 1: Die fünf Dysfunktionen eines Teams (modifiziert nach Lencioni PM: The five dysfunctions of a team. Hoboken, New Jersey, USA: John Wiley & Sons Inc., 2002)
Könnten Sie ein Beispiel nennen, wie sich diese Veränderung konkret im Alltag bemerkbar macht?
G. Haymerle: Ein konkretes Beispiel wäre, dass durch die Anwendung der Coaching-Techniken die Kommunikation im Team deutlich verbessert wird. Ärzt:innen, die vorher Schwierigkeiten hatten, ihre Meinungen oder Bedenken zu äußern, lernen, dies klar und respektvoll zu tun. Das führt zu einer effizienteren Entscheidungsfindung und einem positiveren Arbeitsklima. Zudem wird die Zusammenarbeit im Team harmonischer, da jeder die Stärken des anderen anerkennt und nutzt. Diese Veränderungen haben direkte Auswirkungen auf die Patient:innenversorgung und erhöhen die Zufriedenheit der Mitarbeitenden.
Wie lange dauert es, bis man erste Veränderungen sieht? Und wie geht es nach der initialen Phase weiter?
G. Haymerle: Die ersten Veränderungen sind oft schon nach wenigen Tagen spürbar, besonders was die Kommunikation und Teamarbeit betrifft. Nach einer intensiven Kick-off-Phase mit Workshops und Coaching begleite ich die Abteilung über mehrere Monate, um die Veränderung nachhaltig zu verankern. Ich bin regelmäßig vor Ort, um sicherzustellen, dass die neuen Methoden angewendet werden. Langfristig ist es das Ziel, dass die Abteilung selbstständig weiterarbeitet und die Coaching-Techniken auch ohne meine Präsenz weitergeführt werden. Sollte Unterstützung notwendig sein, biete ich weiterhin ein Abrufmodell an, sodass die Klinik flexibel auf die Unterstützung zugreifen kann.
Welche Vorteile sehen Sie für Kliniken, die diesen Ansatz verfolgen?
G. Haymerle: Der größte Vorteil ist sicherlich, dass Kliniken, die auf Teamarbeit und positive Arbeitskulturen setzen, langfristig weniger Fachärzt:innen verlieren und die Zufriedenheit in der Abteilung steigt. Aber es geht noch weiter: Teams, die durch Coaching gestärkt werden, sind nicht nur leistungsfähiger, sondern auch innovativer. Sie sind in der Lage, schneller auf Veränderungen zu reagieren und die Qualität der Patient:innenversorgung zu verbessern. Das wirkt sich direkt auf den Ruf der Klinik aus und macht sie langfristig für Fachärzt:innen attraktiv.
Abschließend, was ist der wichtigste Aspekt, den Sie den Kliniken und Ärzt:innen mit auf den Weg geben möchten?
G. Haymerle: Der wichtigste Punkt ist, dass eine positive Teamkultur und Kommunikation der Schlüssel für den langfristigen Erfolg sind. Wenn Ärzt:innen in einem Umfeld arbeiten, das Vertrauen, Wertschätzung und klare Kommunikation fördert, werden sie nicht nur in ihrer Arbeit besser, sondern sie werden auch bleiben. Das Coaching hilft dabei, eine solche Kultur zu etablieren und das Potenzial jedes einzelnen Teammitglieds zu entfalten.
Vielen Dank für das Gespräch!
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