
Kollagen-VI-assoziierte Erkrankungen der Muskulatur
Autor:
Priv.-Doz. Dr. Matthias Baumann
Neuropädiatrie
Universitätsklinik für Pädiatrie I
Medizinische Universität Innsbruck
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Kollagen-VI-assoziierte Muskelerkrankungen kombinieren Muskelschwäche, Gelenkhypermobilität, progressive Kontrakturen und Hautauffälligkeiten. Kollagen VI spielt nicht nur im Muskel-, sondern auch im Bindegewebe, insbesondere in der Haut, eine wichtige Rolle. Das klinische Spektrum reicht von der schon in frühen Lebensjahren beginnenden kongenitalen Muskeldystrophie Typ Ullrich mit frühzeitigem Verlust des selbstständigen Gehens und respiratorischer Insuffizienz bis zur Bethlem-Myopathie mit erhaltener Gehfähigkeit bis ins Erwachsenenalter und deutlich milderer Symptomatik.
Keypoints
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Kollagen-VI-assoziierte Muskelerkrankungen zeigen eine charakteristische Kombination von Muskelschwäche, Gelenkhypermobilität, progressiven Kontrakturen und Hautauffälligkeiten.
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Das klinische Spektrum reicht von der früh beginnenden kongenitalen Muskeldystrophie Typ Ullrich bis zur Bethlem-Myopathie mit deutlich milderer Symptomatik.
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Eine nächtliche respiratorische Insuffizienz mit der Notwendigkeit einer nichtinvasiven Beatmung kann bereits bei noch erhaltener Gehfähigkeit auftreten.
Der deutsche Kinderarzt Otto Ullrich (1894–1957) erfasste 1930 erstmals pädiatrische Patienten mit einer frühen Muskelschwäche inklusive Gelenkhypermobilität und progredienten Kontrakturen der proximalen Gelenke. Er bezeichnete diese Erkrankung als kongenitale, atonisch-sklerotische Muskeldystrophie.1 Die niederländischen Mediziner Jaap Bethlem (1924–2007) und George van Wijngaarden beschrieben des Weiteren 1976 mehrere Familien mit einer proximalen Muskelschwäche und Kontrakturen in verschiedenen Gelenken, insbesondere der tiefen Fingerflexoren, als benigne Myopathie mit autosomal-dominanter Vererbung.2 Im Jahr 1996 wurden in weiterer Folge Mutationen in Kollagen-VI-Genen als ursächlich für die Bethlem-Myopathie und 2001 auch für die kongenitale Muskeldystrophie Typ Ullrich erkannt.
Klinisches Spektrum und Verlauf
Kollagen-VI-assoziierte Muskelerkrankungen sind selten, und in Nordengland wurde eine Prävalenz in der Bevölkerung von ca. 1/100000 ermittelt. Bei einem weiten klinischen Spektrum finden sich am schwer betroffenen Ende Patient:innen mit einer kongenitalen Muskeldystrophie Typ Ullrich, bei denen erste Symptome bereits bei der Geburt auftreten. Sie zeigen eine muskuläre Hypotonie und Schwäche und eventuell schon bei Geburt Kontrakturen an Ellbogengelenken und Knien. Charakteristischerweise sind Kontrakturen der proximalen Gelenke mit einer Hypermobilität der distalen Gelenke verbunden. Typisch sind auch prominente Fersen, weiche Fußsohlen und Handinnenflächen sowie Hautauffälligkeiten mit follikulärer Hyperkeratose, Dehnungsstreifen und abnormer Narbenbildung (Keloiden; Abb. 1).
Abb. 1: Charakteristische Symptome bei Kollagen-VI-assoziierten Erkrankungen: (a) distale Gelenkhypermobilität, (b) follikuläre Hyperkeratose und Striae distensae, (c) prominente Fersen und weiche Fußsohlen, (d) proximale Kontrakturen bzw. (e) Dehnungsstreifen & Neigung zu auffälliger Narbenbildung
Die Kontrakturen sind häufig progredient und die Patient:innen entwickeln eine Kyphoskoliose. Der überwiegende Teil erreicht, wenn auch mit Verzögerung, die freie Gehfähigkeit, verliert sie jedoch bis zum Alter von 20 Jahren wieder.
Eine respiratorische Insuffizienz durch eine Zwerchfellschwäche erfordert z.T. schon im ersten Lebensjahrzehnt eine nichtinvasive nächtliche Maskenbeatmung. Deshalb sollten bei Betroffenen regelmäßige Lungenfunktionsuntersuchungen und nächtliche O2-Sättigungs- und CO2-Messungen bereits im Kindes- und Jugendalter erfolgen.
Beim intermediären Phänotyp zeigt sich die Muskelschwäche eher langsam progredient. Die Gehfähigkeit bleibt meist bis ins junge Erwachsenenalter erhalten und die Kontrakturen sind variabler. Eine im Verlauf häufig auftretende nächtliche respiratorische Insuffizienz bedarf aufmerksamer Kontrollen, sie kann auch bei noch erhaltener Gehfähigkeit auftreten und ist dann mit der Notwendigkeit einer nichtinvasiven Beatmung verbunden.
Bei der typischen Bethlem-Myopathie bleibt die Gehfähigkeit bis ins späte Erwachsenenalter bestehen und nur ein geringer Anteil benötigt eine nächtliche nichtinvasive Beatmung. Kontrakturen der langen Fingerbeuger verhindern eine komplette Streckung der Finger, wenn die Handflächen bei Handgelenksextension und angehobenen Ellenbeugen aneinandergelegt werden. Dies wird auch als „Bethlem sign“ bezeichnet. Von der typischen Bethlem-Myopathie werden noch weitere Varianten unterschieden: einerseits die myosklerotische Variante, bei der die Muskelkontrakturen bei Weitem die Muskelschwäche überwiegen, und andererseits das Kollagen-VI-assoziierte Gliedergürtelsyndrom mit Beginn der Symptomatik im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter, proximaler Schwäche und, wenn überhaupt, nur minimalen Kontrakturen.3 Die frühen motorischen Meilensteine, die Gehfähigkeit und Notwendigkeit einer nichtinvasiven Beatmung bei der kongenitalen Muskeldystrophie Typ Ullrich, dem intermediären Phänotyp und der Bethlem-Myopathie machen demnach eine Unterscheidung dieser Kollagen-VI-assoziierten Muskelerkrankungen voneinander möglich (Tab. 1).4
Pathogenese
Kollagen VI ist ein Bestandteil der extrazellulären Matrix, bei dessen Synthese zunächst aus drei unterschiedlichen Ketten basale Monomere (Grundbausteine von Proteinen) gebildet werden. Diese Ketten werden aus dem „Collagen type VI alpha 1 chain“ (COL6A1), „Collagen type VI alpha2 chain“ (COL6A2) und „Collagen type VI alpha 3 chain“ (COL6A3)-Gen codiert. Aus den entstandenen Monomeren werden in weiterer Folge Dimere und dann Tetramere zusammengebaut. Nach Sekretion in die extrazelluläre Matrix bilden sie ein Netz aus perlschnurartigen Mikrofilamenten (Bestandteilen des Zytoskeletts).
Bei rezessiven Nullmutationen fehlt Kollagen VI meist vollständig. Bei dominanter Vererbung bewirkt ein dominant-negativer Effekt eine Mislokalisation des veränderten Kollagen VI in der extrazellulären Matrix. Dies lässt sich in der Immunhistologie von Muskelbiopsien und auch Hautfibroblastenkulturen darstellen.
Neben dem Skelettmuskel spielt Kollagen VI auch im Knorpelgewebe, in Knochen, in Sehnen, der Haut, der Lunge, dem Fettgewebe, dem Nervensystem und dem Herzen eine Rolle, wobei bisher wohl noch nicht alle Funktionen bekannt sind und ganz verstanden werden.5 Im Muskelgewebe bewirkt eine Kollagen-VI-Defizienz über eine mitochondriale Dysfunktion eine verstärkte Apoptose (kontrollierter Zelltod) und wirkt sich negativ auf Autophagie, Regeneration und Festigkeit des Muskels aus.6
Diagnosen & Differenzialdiagnosen
Im Rahmen von Kollagen-VI-assoziierten Muskelerkrankungen ist die Serum-Kreatinkinase meist normal oder nur leicht erhöht und die Muskel-Magnetresonanztomografie (MRT) kann Hinweise auf die Erkrankung liefern. In der Bildgebung findet sich dann eine fettige Degeneration im Zentrum des M. rectus femorisund am Rand des M. vastus lateralis. Die Diagnose wird heute meistens durch eine molekulargenetische Untersuchung gestellt. Bei nicht eindeutigen Befunden kann die Immunhistologie einer Muskelbiopsie oder von kultivierten Fibroblasten weiterhelfen. Differenzialdiagnosen zu Kollagen-VI-assoziierten Muskelerkrankungen sind Myopathien (z.B. „Multi-minicore“-Myopathie) oder Bindegewebserkrankungen (z.B. kyphoskoliotische Ehler-Danlos-Syndrome), die mit Gelenkhypermobilität, Haut-auffälligkeiten oder auch frühen Kontrakturen einhergehen.7,8
Therapien
Bei Patient:innen mit kongenitaler Muskeldystrophie Typ Ullrich können symptomorientierte Therapien, die die orthopädischen Probleme (Kontrakturprophylaxe, Physiotherapie, Orthesen, Achillessehnenverlängerung, Skolioseoperationen) oder die respiratorische Insuffizienz (nächtliche nichtinvasive Beatmung) adressieren, Lebensqualität und -erwartung verbessern. Ein moderates aerobes Training kann sich positiv auf die Fitness bei Bethlem-Myopathie auswirken.9 Eine primäre Kardiomyopathie wird bei Kollagen-VI-assoziierten Erkrankungen nicht beobachtet.
Weitere Therapieansätze gehen in Richtung einer Autophagieaktivierung, z.B. durch diätologische Maßnahmen, einer pharmakologischen Hemmung der Apoptose sowie in Richtung einer Geninaktivierung oder einer Korrektur des „Splicing“-Prozesses (wichtiger Schritt in der Bildung einer reifen mRNA).10–13 Es gibt zurzeit jedoch noch keine zugelassenen Medikamente für Kollagen-VI-assoziierte Muskelerkrankungen.
Literatur:
1 Ullrich O: Kongenitale, atonisch-sklerotische Muskeldystrophie, ein weiterer Typus der heredodegenerativen Erkrankungen des neuromuskulären Systems. Neur Psych 1930; 126: 171-201 2 Bethlem J, Wijngaarden GK: Benign myopathy, with autosomal dominant inheritance. A report on three pedigrees. Brain 1976; 99(1): 91-100 3 Bönnemann CG: The collagen VI-related myopathies: muscle meets its matrix. Nat Rev Neurol 2011; 7(7): 379-90 4 Natera-de Benito D et al.: Association of initial maximal motor ability with long-term functional outcome in patients with COL6-related dystrophies. Neurology 2021; 96(10): e1413-24 5 Cescon M et al.: Collagen VI at a glance. J Cell Sci 2015; 128(19): 3525-31 6 Di Martino A et al.: Collagen VI in the musculoskeletal system. Int J Mol Sci 2023; 24(6): 5095 7 Baumann M et al.: Mutations in FKBP14 cause a variant of Ehlers-Danlos syndrome with progressive kyphoscoliosis, myopathy, and hearing loss. Am J Hum Genet 2012; 90(2): 201-16 8 Donkervoort S et al.: The neuromuscular differential diagnosis of joint hypermobility. Am J Med Genet C Semin Med Genet 2015; 169C(1): 23-42 9 Vissing CR et al.: Moderate-intensity aerobic exercise improves physical fitness in bethlem myopathy Muscle Nerve 2019; 60(2): 183-8 10 Castagnaro S et al.: Autophagy activation in COL6 myopathic patients by a low-protein-diet pilot trial. Autophagy 2016; 12(12): 2484-95 11 Foley AR et al.: Phase 1 open-label study of omigapil in patients with LAMA2- or COL6-related dystrophy. Neurol Genet 2024; 10(3): e200148 12 Marrosu E et al.: Gapmer antisense oligonucleotides suppress the mutant allele of COL6A3 and restore functional protein in Ullrich muscular dystrophy. Mol Ther Nucleic Acids 2017; 8: 416-27 13 Bolduc V et al.: A recurrent COL6A1 pseudoexon insertion causes muscular dystrophy and is effectively targeted by splice-correction therapies. JCI Insight 2019; 4(6): e124403
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