
Machine Learning zur Verbesserung der Versorgung ausländischer Patient:innen
Autorin:
Dr. med. Lena Machetanz
Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
E-Mail: lena.machetanz@pukzh.ch
Die zunehmende Diversität aufgrund von Migration bringt spezifische Herausforderungen hinsichtlich Kommunikation, kultureller Deutung von Symptomen sowie institutioneller Strukturen mit sich. Dieser Beitrag beleuchtet die aktuelle Versorgungssituation aus interkultureller Perspektive und zeigt mögliche Potenziale durch den Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) zur Verbesserung der Versorgung.
Keypoints
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Die forensisch-psychiatrische Versorgung ausländischer Patient:innen wird durch Zuwanderung relevanter und erfordert besondere Sensibilität für kulturelle, sprachliche und biografische Unterschiede.
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Machine Learning (ML) kann helfen, Versorgungslücken zu erkennen, Diagnostik und Therapie zu individualisieren und neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren.
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Der Einsatz von ML muss kritisch begleitet und in ein ganzheitliches Behandlungskonzept eingebettet werden.
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Viele Potenziale von ML sind in der forensischen Psychiatrie aktuell noch Zukunftsvision. Es braucht mehr interdisziplinäre Forschung, um sie sicher und sinnvoll in die Praxis zu integrieren.
Migrationsbewegungen sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels demografischer, wirtschaftlicher, ökologischer, politischer und soziokultureller Faktoren. Stand 2022 machten im Ausland geborene Personen in Österreich etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. Diese gesellschaftliche Realität spiegelt sich auch im Massregelvollzug (MRV) wider. Daten für die Schweiz für das Jahr 2023 zeigen, dass ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung im Ausland geboren wurde. Fast ein Viertel aller im Ausland Geborenen halten sich seit mindestens 20 Jahren in der Schweiz auf. Ein ähnlich hoher Anteil ist in den letzten 4 Jahren eingewandert.
Herausforderungen der interkulturellen Forensik
Bei Menschen ausländischer Herkunft ergeben sich unter Umständen verschiedene Risikofaktoren für psychische Erkrankungen und auch Kriminalität, z.B. schwere psychosoziale Belastung und traumatische Lebensereignisse. Vor allem Schizophrenie-Spektrum- und Substanzgebrauchsstörungen liegen in dieser Population einer forensisch-psychiatrischen Unterbringung zugrunde. In den letzten Jahren wurden vermehrt Untersuchungen zur psychischen Gesundheit von Zugewanderten durchgeführt und Versorgungsleitlinien veröffentlicht (z.B. WHO). Dennoch ist der empirische Wissensstand zu spezifischen Bedürfnissen in der forensisch-psychiatrischen Behandlung und Rehabilitation noch defizitär. Unstrittig ergeben sich durch diverse Faktoren andere Herausforderungen für ausländische Patient:innen als für jene, die im Land des jeweiligen MRV geboren, aufgewachsen und sozialisiert wurden. Hierzu können je nach Herkunftskultur z.B. andere Rollenerwartungen an sich selbst und Dritte, Wertehaltungen bezüglich Ehrgefühl und Respekt, Bewertung von Autorität von Personen und Institutionen oder Umgang mit Sexualität und Geschlechterrollen gehören. Therapeut:innen sollen sich entsprechend mit Einstellungen, Verhaltensweisen und Normen der Herkunftskultur ausländischer Patient:innen dezidiert auseinandersetzen, um die therapeutische Beziehung entstehen lassen zu können und eine kultursensible, wirksame Behandlung zu gewährleisten. Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher Herkunftskulturen und individueller Lebenswelten zugewanderter Patient:innen ist dies in der Praxis herausfordernd und nicht selten unzureichend.
Eine weitere Herausforderung Zugewanderter im MRV können sprachliche Barrieren darstellen, welche die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse, Emotionen und Ansichten im therapeutischen Kontext oder Stationsmilieu adäquat auszudrücken, beeinträchtigen. Dies, neben einer möglichen kulturell bedingten divergierenden Wahrnehmung eigener Symptome, erschwert die diagnostische Einordnung. Umgekehrt können sprachliche und kulturelle Barrieren die Entwicklung eines aufgeklärten Verständnisses für Rechtsgrundlage, Ablauf und Ziele der forensisch-psychiatrischen Therapie auf Patient:innenseite hemmen. Auch eine ungesicherte Bleibeperspektive mit drohender Ausserlandesbringung nach Beendigung des MRV stellt eine ausgeprägte psychosoziale Belastung für die Betroffenen dar und steht im Widerspruch zu Rehabilitation und Reintegration als Ziel einer forensisch-psychiatrischen Behandlung.
Künstliche Intelligenz im Dienst der Versorgungsgerechtigkeit
Mit dem rasanten technischen Fortschritt der künstlichen Intelligenz (KI) ergeben sich diverse potenzielle Einsatzbereiche, um den geschilderten Herausforderungen zu begegnen und die Versorgung ausländischer Patient:innen zu optimieren. Machine Learning (ML) als Teilbereich der KI zielt darauf ab, Muster in grossen Datensätzen zu erkennen und daraus Vorhersagen zu treffen. Während klassische statistische Verfahren auf vorher festgelegten Modellen bzw. Hypothesen beruhen, «lernt» ML direkt aus den Daten selbst, indem es verschiedene Algorithmen testet, um dann jene zu identifizieren, die Zusammenhänge in einem vorliegenden Datensatz am besten abbilden. Dank umfangreicher digitaler Datenquellen findet ML heute zunehmend auch Anwendung in der forensischen Psychiatrie, z.B. zur Risikobewertung, Therapieplanung oder Subgruppenanalyse.
Chancen und Ausblicke
Vor dem Hintergrund der geschilderten Herausforderungen, die mit der Behandlung von ausländischen Patient:innen in der forensischen Psychiatrie einhergehen, eröffnen sich durch den Einsatz von ML vielversprechende Potenziale zur Verbesserung der Versorgung. Im Bereich der Forschung kann ML dabei helfen, explorative Auswertungen grosser, heterogener Datenbestände vorzunehmen, Hypothesengenerierung zu unterstützen und Zusammenhänge aufzudecken, und so einen wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung einer evidenzbasierten, kultursensiblen, gerechten forensischen Versorgung leisten. Subgruppenanalysen (z.B. Cluster-Analysen) ermöglichen dabei die Identifikation bislang unerkannter Subgruppen mit spezifischen Bedarfen, etwa hinsichtlich kultureller Prägungen, Belastungserfahrungen oder institutioneller Anpassungsschwierigkeiten.
Finden ML-generierte Erkenntnisse Eingang in die klinische Praxis in Form konkreter Tools, bieten sich in der Diagnostik und der Therapieplanung Optimierungsmöglichkeiten: ML-Algorithmen könnten etwa dazu beitragen, komplexe Symptomkonstellationen zu erkennen, indem sie datenbasiert relevante Muster identifizieren, sprachliche und kulturelle Missverständnisse zu minimieren und so die diagnostische Objektivität zu erhöhen. Bei der hohen interindividuellen Varianz innerhalb der Gruppe ausländischer Patient:innen im Bereich der Behandlungsplanung kann ML einen wertvollen Beitrag durch die Berechnung individueller Risiko- und Ressourcenprofile auf Basis vielfältiger Variablen wie Herkunft, soziodemografischer Merkmale, psychiatrischer und krimineller Vorgeschichte oder früherer Behandlungserfahrungen leisten. Dies wiederum könnte eine evidenzbasierte, differenziertere Therapieplanung ermöglichen und helfen, das Rehabilitationspotenzial besser abzuschätzen.
Ethische Aspekte und Limitationen
Bei allen möglichen Perspektiven, die sich durch den Einsatz von ML für die forensische Psychiatrie ergeben, gilt es auch, die Grenzen und Fallstricke der Methodik im Auge zu behalten. Dabei muss bedacht werden, dass die Qualität und Belastbarkeit eines Modells nur so gut ist wie die Qualität der zugrunde liegenden Daten. Als prominentestes Beispiel hierfür dient der im Jahr 2016 von Microsoft veröffentlichte Chatbot «Tay», ein experimentelles KI-System, das mittels Interaktion mit Nutzer:innen sprachliche Fähigkeiten erlernen sollte. Innerhalb kürzester Zeit wurde «Tay» jedoch gezielt mit diskriminierenden und extremistischen Inhalten konfrontiert, die er aufgrund fehlender inhaltlicher Filtermechanismen übernahm und öffentlich reproduzierte. Ähnlich hierzu können auch ML-Modelle bestehende gesellschaftliche Vorurteile und Diskriminierungen verstärken, wenn sie anhand von historischen Daten trainiert werden, die solche Verzerrungen enthalten können. Dies kann dazu führen, dass bestimmte Gruppen benachteiligt werden. Beispielsweise könnten ML-Modelle stereotype Bilder oder Narrative reproduzieren, die bereits in der Gesellschaft vorhanden sind.
Aufgrund ihrer Komplexität und oft unzureichender Expertise bleiben angewandte statistische Modelle häufig eine Art «Black Box». Können die den Modellen zugrunde liegenden Prozesse nicht durch die Anwender:innen nachvollzogen werden, besteht die Gefahr, dass Fachpersonen zu stark auf die von ML-Modellen generierten Ergebnisse vertrauen, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Dies kann dazu führen, dass individuelle Umstände und Kontextfaktoren von Patient:innen übersehen werden, was für bereits benachteiligte Gruppen nachteilig sein kann. Analog zu bereits etablierten Prognoseinstrumenten in der forensischen Psychiatrie (z.B. VRAG-R) dürfen ML-Modelle zur Vorhersage bestimmter Ereignisse also nur Bestandteil einer ganzheitlichen individuellen Fallanalyse sein.
Zusammenfassung
Die forensisch-psychiatrische Versorgung ausländischer Patient:innen ist aufgrund sprachlicher, kultureller und struktureller Barrieren besonders herausfordernd. ML bietet vielversprechende Möglichkeiten, diagnostische und therapeutische Prozesse zu unterstützen, Versorgungslücken zu identifizieren und personalisierte Behandlungsansätze zu fördern. Viele Anwendungsmöglichkeiten sind bislang überwiegend theoretischer Natur. Um das tatsächliche Potenzial von ML im Sinne einer gerechten und wirksamen Versorgung ausschöpfen zu können, bedarf es einer systematischen, interdisziplinären Weiterentwicklung und empirischen Validierung der entsprechenden Modelle. Zukünftige Forschung muss insbesondere auch ethische und praxisrelevante Fragestellungen adressieren, um den verantwortungsvollen Einsatz dieser Technologie im klinischen Alltag zu gewährleisten.
Literatur:
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