
Selbsthilfe als Ergänzung zur psychiatrischen Versorgung
Autorin:
Prof. Dr. phil. Suzanne Lischer
Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
E-Mail: suzanne.lischer@hslu.ch
Gesundheitsbezogene Selbsthilfe stellt ein komplementäres Versorgungsangebot entlang der Gesundheitspfade dar. Daher sollten Fachkräfte anhand von Behandlungsempfehlungen beurteilen, ob für Patient:innen Selbsthilfeoptionen geeignet sind und ob sie für die Teilnahme an gruppenbasierten Interventionen infrage kommen. Die Beteiligung der Selbsthilfeakteur:innen an der Erstellung der Behandlungsempfehlungen ist daher von Bedeutung.
Keypoints
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Fachkräfte im Gesundheitswesen sind entscheidende Multiplikatoren, um Betroffene und deren Angehörige auf geeignete Selbsthilfeangebote hinzuweisen und die Nutzung dieser zu unterstützen.
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Behandlungsempfehlungen sollten Fachpersonen dabei helfen zu beurteilen, ob Selbsthilfeoptionen für Patient:innen indiziert und diese in der Lage sind, an gruppenbasierten Interventionen teilzunehmen.
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Die Einbindung von Mitgliedern von Selbsthilfegruppen, Vertreter:innen von Patient:innen- und Angehörigenorganisationen sowie Fachpersonen in Selbsthilfezentren in die Erstellung der Behandlungsempfehlungen ist entscheidend, um Akzeptanz und eine patient:innenzentrierte Versorgung zu fördern.
Unterscheidung von Selbsthilfegruppen und nicht gemeinschaftlichen Formen der Selbsthilfe
Die Bedeutung gesundheitsbezogener Selbsthilfe als integraler Bestandteil des Versorgungssystems ist gross. Daher empfiehlt sich deren systematische Integration in Behandlungsempfehlungen sowie in die psychiatrische Versorgungspraxis. Fachkräfte im Versorgungssystem übernehmen eine zentrale Rolle, indem sie als Multiplikatoren den Zugang zur Selbsthilfe aktiv fördern.
Selbsthilfegruppen
Gemeinschaftliche Selbsthilfe gibt es zu vielen Themen und in unterschiedlichen Formen, die alle eines gemeinsam haben:1 Es handelt sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von Menschen, die sich gegenseitig bei der Bewältigung von Krankheiten oder psychischen Belastungen unterstützen – sei es als Betroffene oder als Angehörige.2 Solche Gruppen fördern das Selbstmanagement, ermöglichen den Austausch von Erfahrungen, die Nutzung von Ressourcen und ein vertieftes Verständnis der Erkrankung. Dies kann das Wohlbefinden der Betroffenen nachhaltig stärken. In der Schweiz gibt es rund 2000 Selbsthilfegruppen,1 die sich mit über 300 Themen befassen. Etwa 75% konzentrieren sich auf gesundheitsbezogene Themen. Innerhalb dieses Spektrums widmen sich circa 34% der Gruppen psychologisch-psychiatrischen Fragestellungen, einschliesslich kognitiver Beeinträchtigungen, psychischer und Suchterkrankungen.3 Die Koordination dieser Gruppen liegt in den Händen von 22 regionalen Selbsthilfezentren, die von Fachpersonen geleitet werden.
Neben lokalen Selbsthilfegruppen existieren rund 200 themenspezifische Organisationen, darunter die Angehörigenbewegung Stand by You Schweiz sowie der Verein Trialog und Antistigma Schweiz. International bekannt sind beispielsweise die Anonymen Alkoholiker (AA) oder Narcotics Anonymous (NA), deren Vorgehensweise auf dem «12-Schritte»-Programm beruht. Sie sind offen für neue Mitglieder, die den Wunsch nach Genesung haben. In den regelmässigen «Meetings» berichten die Teilnehmer:innen in Form von Monologen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Sucht, Bewältigungsstrategien, Rückfällen und Erfolgen, wobei die eigene Perspektive im Mittelpunkt steht. Fragen an oder Ratschläge für andere Teilnehmer:innen sind nicht vorgesehen.4
Fachlich gestützte Selbsthilfe, Peer-Support und individuelle Selbsthilfe
Fachgeleitete Gruppen werden von qualifizierten Fachpersonen geführt und werden nicht zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe gezählt. Dennoch können ihre Aktivitäten und Ziele unter bestimmten Bedingungen mit denen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe vergleichbar sein, insbesondere wenn der Austausch zwischen den Teilnehmer:innen im Mittelpunkt steht.1 Der Peer-Support nutzt die individuellen Erfahrungen und Strategien von ehemals Betroffenen im Umgang mit psychischen Erkrankungen. Er gilt als zentral für Recovery-orientierte Dienste und hat positive Auswirkungen auf das therapeutische Klima sowie den Abbau von Stigmatisierung.5 In Bezug auf die individuelle Selbsthilfe unterscheidet man zwischen Patient:innenratgebern, die als schriftliche Informationshilfen für spezifische Störungen dienen, und internetbasierten Selbsthilfeinterventionen, die einen niederschwelligen Zugang sowie zeitliche und örtliche Flexibilität bieten. Online-Selbsthilfe-Foren etablieren sich zudem als wichtige Kommunikationsplattformen für psychisch erkrankte Menschen und deren Angehörige.5
Selbsthilfegruppen als Ergänzung der psychiatrischen Versorgung bei psychischen Störungen und Belastungen
Die möglichen positiven Wirkungen der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe sind vielfach wissenschaftlich belegt. Im Wesentlichen lassen sich zwei zentrale Wirkungen auf Teilnehmer:innen unterscheiden: zum einen die psychosozialen Auswirkungen, die sich auf die Bewältigung des Lebens mit chronischen Einschränkungen und Belastungen beziehen, und zum anderen gesundheitsbezogene Effekte auf den Verlauf der Krankheit bzw. Behinderung.6 In Bezug auf psychische Probleme liefert eine Metastudie Evidenz dafür, dass Selbsthilfegruppen für Personen in drei spezifischen Problemfeldern – chronische psychische Erkrankungen, Depressionen oder Angststörungen und Trauerbewältigung – von Nutzen sein können. Keine der untersuchten Studien lieferte Hinweise auf negative Auswirkungen.7
Nicht alle Menschen, die von gesundheitlichen oder psychosozialen Problemen betroffen sind, schliessen sich einer Selbsthilfegruppe an. Die Teilnahme setzt die Bereitschaft voraus, persönliche Informationen zu teilen und wechselseitige Unterstützung zu leisten. Besonders bei sensiblen Themen kann intensives emotionales Engagement innerhalb der Gruppe Unbehagen hervorrufen und die psychische Belastung der Mitglieder verstärken. Abgesehen von potenziellen negativen Auswirkungen für Einzelne besteht die Gefahr, dass Selbsthilfegruppen von institutionellen Akteur:innen des professionellen Versorgungssystems vereinnahmt werden.8
Es gibt nur wenige Studien zur Wirksamkeit von Selbsthilfegruppen, und diese sind meist qualitativ ausgerichtet. Quantitative Vergleichsstudien stehen vor methodischen Herausforderungen, z.B. Heterogenität der Indikationen und Konzepte, komplexe Taxonomie (z.B. Selbsthilfegruppen, Peer-Support), die Freiwilligkeit, die eine Randomisierung erschweren kann, und unterschiedliche Outcome-Definitionen.9
Behandlungsempfehlungen zur Selbsthilfe bei verschiedenen Störungsbildern
Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) entwickelt Behandlungs- sowie weitere Empfehlungen für die psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis. Diese Empfehlungen werden in geeigneter Form sowohl für Mitglieder als auch für andere Interessierte veröffentlicht.10 Ein Beispiel ist die Behandlungsempfehlung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung, die betroffenen Angehörigen nahelegt, spezifische Selbsthilfegruppen oder Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen.11 Je nach Art der Störung können jedoch auch andere Formen der Selbsthilfe nützlich sein. Aus diesem Grund berücksichtigen die Behandlungsempfehlungen auch fachlich geleitete Selbsthilfegruppen oder Formen der individuellen Selbsthilfe.
Es ist begrüssenswert, dass die Behandlungsempfehlungen nach spezifischem Krankheitsbild differenziert auf die verschiedenen Formen der Selbsthilfe hinweisen. In den Empfehlungen zu den jeweiligen Krankheitsbildern sollte jedoch grundsätzlich eine Einschätzung vorgenommen werden, inwieweit Selbsthilfeoptionen als effektiv oder als geeignet betrachtet werden können und ob die Patient:innen in der Lage sind, an gruppenbasierten Interventionen teilzunehmen. Derzeit gibt es allerdings nur begrenzte Erkenntnisse darüber, in welcher Krankheitsphase, bei welchen Störungsbildern oder Persönlichkeitsmerkmalen die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe oder einer anderen Form von Selbsthilfe förderlich ist. Hier besteht Forschungsbedarf, um evidenzbasierte Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Zudem ist es erforderlich, Mitglieder von Selbsthilfegruppen und -organisationen sowie Vertreter:innen von Patient:innen- und Angehörigenorganisationen oder Fachpersonen in Selbsthilfezentren aktiv in die Erstellung der Behandlungsempfehlungen einzubeziehen. Ihre Perspektiven und Erfahrungen leisten einen wesentlichen Beitrag zur Steigerung der Praxisrelevanz und Akzeptanz der Behandlungsempfehlungen und tragen dazu bei, eine nachhaltige, patient:innenzentrierte Versorgung zu fördern.
Fazit
Eine enge Verzahnung von professionellen und nicht professionellen Interventionen in der Gesundheitsversorgung wird als sinnvoll angesehen.5 Fachkräfte im medizinischen Versorgungssystem fungieren als zentrale Multiplikatoren, indem sie Betroffene und deren Angehörige auf geeignete Selbsthilfeangebote hinweisen. Eine optimale Wirksamkeit verlangt die gezielte Integration der Selbsthilfe in den Behandlungsverlauf, die den Übergang zwischen professioneller Gesundheitsversorgung und Selbsthilfeangeboten entlang des Gesundheitspfades berücksichtigt.
Literatur:
1 Selbsthilfe Schweiz. www.selbsthilfeschweiz.ch/shch/de.html (2025) 2 Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG). Selbsthilfegruppen Unterstützung: Ein Orientierungsrahmen. Gießen, 1987 3 Lanfranconi LM et al.: Gemeinschaftliche Selbsthilfe in der Schweiz: Bedeutung, Entwicklung und ihr Beitrag zum Gesundheits- und Sozialwesen. Hogrefe AG, 2017 4 Matzat J: Zum Stand der Selbsthilfe in Deutschland – unter besonderer Berücksichtigung der Sucht-Selbsthilfe. European Journal of Mental Health 2009; 4(1): 101-14 5 Gühne U et al.: S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen: S3-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Springer-Verlag, 2019 6 Kofahl C et al.: Wirkungen der gemeinschaftlichen Selbsthilfe. Münster: LIT Verlag, 2019 7 Pistrang N et al.: Mutual help groups for mental health problems: a review of effectiveness studies. Am J Community Psychol 2008; 42(1-2): 110-21 8 Hundertmark-Mayser J et al.: Themenheft 23 Selbsthilfe im Gesundheitsbereich. 2004 9 Kofahl C: Associations of collective self-help activity, health literacy and quality of life in patients with tinnitus. Patient Educ Couns 2018; 101(12): 2170-8 10 Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP). Behandlungsempfehlungen. 2025 11 Euler S et al.: SGPP-Behandlungsempfehlungen Borderline-Persönlichkeitsstörung. Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP), Bern 2018
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